Die Wunde unserer Endlichkeit
Oftmals, auf Nachfrage, entkleidet sich unser Streben nach spiritueller Entfaltung und „Erwachen“ in Sätzen wie „Ich will glücklich sein“ oder „Ich will das Leben meistern“. Oftmals auch geben diese Sätze wiederum den Blick auf den darunter liegenden Wunsch frei: „Ich will frei von Schmerz sein“.
Es ist der Schmerz, den wir um jeden Preis bändigen, heilen, auflösen, loslassen, vergessen, transzendieren, aufgeben wollen, und dafür werden wir so erfindungsreich in Theorie und Praxis, dass spürbar wird: hier geht es buchstäblich um Leben und Tod. Denn alle Angst vor dem Schmerz ist letzten Endes eine Angst vor dem Tod. Eine Angst vor dem Ende des Glücks, der Gesundheit, der Familie, der Partnerschaft, des Wohlstands, der physischen Existenz, der Person.
Noch unsere spirituellen Konzepte sind oftmals leicht zu entlarvende Ränkespiele, mit denen wir uns schnell in den Gedanken der Ewigkeit und der All-Einheit, des Sinns oder der Vorbestimmung flüchten, bevor die Vorstellung unseres Schwindens uns auch nur einen erhöhten Puls verschafft. Da tun wir, was wir so oft und unerbittlich tun: wir überspringen das eine, das Notwendige, und nehmen unser Ankommen vorweg. Und der Grund dafür ist nichts weiter als Angst – unser Ankommen aber bleibt Selbstbetrug (und oft genug auch: Betrug an Anderen!). Und ohne es zu wissen, bringen wir uns damit um das tiefe Glück, das sich entfaltet wenn wir Leben in seiner Ganzheit annehmen und fließen lassen.
Was uns die christliche Tradition über die Kartage erzählt, ist eine beispiellose Geschichte von Leiden und Sterben. Und bevor wir uns alle, erneut vorwegnehmend, „Frohe Ostern“ zurufen, sollten wir das aushalten und ansehen: Kartage.
Diese Tage erzählen uns von der Erfahrung schmerzlicher Wirklichkeiten, die angenommen und durchlebt werden wollen. Christus offenbart uns keine Formel, die wir künftig auf schmerzvolle Erfahrungen anwenden können, um uns die Tränen zu ersparen. Stattdessen lädt er uns ein, die Tränen zu weinen, mit aller Hingabe, und das Lachen zu lachen, mit ebensolcher Hingabe.
Weder gilt es, den Schmerz zu halten noch ihn aufzulösen (und bitte: ich rede hier von der inneren Erfahrung von Schmerz, und keineswegs davon, dass man leidverursachende Strukturen in der Welt nicht mit aller Tatkraft ändern sollte). Weder gilt es, das Glück zu halten, noch es aufzulösen. Das, was wir sind, jenseits der Schmerzen, ist mehr als der Schmerz. Das, was wir sind, jenseits des Glücks, ist mehr als das Glück. Und dieses Sein hat kein Bestreben, uns vor Schmerz oder Glück zu bewahren, die es selbst als Schöpfung hervorgebracht hat.
Der Karsamstag ist der radikalste Tag der Konfrontation mit der Endlichkeit. Hier schweigt die Kirche, angesichts des Todes der inkarnierten Gottheit. Er, der das Leben ist, ist fort - und führt uns damit die abgründigste Furcht des Menschen vor Augen.
Wir alle sollten mehr innere Karsamstage üben. Die Konfrontation mit der Urangst vor dem Nichtsein, vor dem Sterben jeder Gewissheit. Die Alten wussten darum, weswegen die Betrachtung des Todes fester Bestandteil spiritueller Praxis war. Nicht nur im Christentum, auch etwa im Buddhismus.
Erst wenn der Kelch geleert ist, erst wenn wir uns haben stechen lassen, dort wo es wirklich weh tut, in der Wunde unserer Endlichkeit, kann etwas in uns singen: Oh Tod, wo ist Dein Stachel nun. Und diese Worte werden wir singen, morgen schon.